Überwältigende Mehrheit für Chirac

Für alle Themen, die mit Frankreich in Zusammenhang stehen und die in keines der anderen Foren passen.
Antworten
Wolfram Gagern
Beiträge: 183
Registriert: Dienstag 9. April 2002, 14:46
Wohnort: Köln

Sonntag 5. Mai 2002, 23:22

Auszüge aus einem frühen Online-Artikel des Kölner Stadt-Anzeigers, meiner Haus-Postille :):

Nach einer in der Geschichte des Landes beispiellosen Mobilisierung gegen einen Rechtsruck haben ersten Ergebnissen zufolge rund 82 Prozent für Chirac gestimmt und 18 Prozent für Le Pen. Chirac hat seit Jahrzehnten wichtige politische Ämter inne - er war Minister, Ministerpräsident und Bürgermeister der Metropole Paris. Seit 1981 hatte er sich insgesamt viermal um das höchste Amt im Staat beworben. Zum Präsidenten wurde er erstmals 1995 gewählt.

Der sozialistische Ministerpräsident Lionel Jospin, der in der ersten Wahlrunde ausgeschieden war, hat bereits seinen Rückzug aus der Politik angekündigt.

Le Pen warf Chirac unmittelbar nach Schließung der Wahllokale vor, die Abstimmung mit "sowjetischen Methoden" gewonnen zu haben. Die "morbide Allianz", die ihm zum Sieg verholfen habe, werde schon bald zerfallen, sagte er.

Zur Wahl Chiracs hatten fast alle Parteien aufgerufen, um Le Pen als Präsident zu verhindern, nachdem der sozialistische Ministerpräsident Jospin dem Rechtsextremisten überraschend in der ersten Runde unterlegen war. Um Le Pen zu stoppen, riefen Gewerkschaften, Kirchen, Kommunisten, Grüne und kleinere linke Parteien zur Stimmabgabe für Chirac auf, der bis zur ersten Wahlrunde durch zahlreiche Korruptionsvorwürfe als angeschlagen galt.

Hunderttausende Menschen waren in den vergangenen beiden Wochen beinahe täglich in vielen Städten des Landes auf die Straßen gegangen, um gegen Le Pen zu demonstrieren. Allein in Paris versammelten sich bei einer Demonstration mehr als eine Million Menschen. Mit dem Motto "Wählt den Gauner, nicht den Verbrecher", brachten viele Linke ihren Widerwillen über die "erzwungene" Unterstützung für Chirac zum Ausdruck. Während die Demonstrationen fast ausschließlich von der Linken organisiert waren, hatten sich die bürgerlichen Parteien und auch Chiracs Bewegung Rassemblement pour la Republique (Versammlung für die Republik, RPR) mit öffentlichen Protesten zurückgehalten.

Auch die Medien des Landes hatten aufgerufen, Chirac zu wählen. Die linksliberale "Liberation", die am Tag nach der ersten Runde mit der riesigen Schlagzeile "Nein" erschienen war, titelte nun über einem Wahlzettel für Chirac: "Ja". Der rechte "Figaro" rief unter der Überschrift "Für Frankreich" zur Wahl Chiracs auf. Auch zahlreiche Prominente, etwa Fußballstar Zinedine Zidane empfahlen die Wahl Chiracs.

Der 73-jährige Le Pen ist seit Jahrzehnten Kristallisationsfigur der extremen Rechten in Frankreich. In Anspielung auf seine Äußerung, der millionenfache Mord an den europäischen Juden im Faschismus sei nur "ein Detail der Geschichte", hatten Demonstranten in den vergangenen beiden Wochen immer wieder Plakate mit Fotos in Konzentrationslagern ermordeter Menschen durch die Straßen getragen. "Ein Detail?", oder - in Anspielung auf sein Ergebnis in der ersten Runde - "Le Pen, Stärke 17 auf der Hitler-Skala", lauteten Transparentaufschriften.

Le Pen, der seine Partei Front National 1972 gegründet hatte, setzte in seinen Wahlkämpfen stets auf Fremdenhass und versuchte darüber hinaus, die Angst vor wachsender Kriminalität und einem geeinten Europa für sich zu nutzen. Nach der ersten Runde der Präsidentenwahl kündigte er für den Fall seines Sieges einen Austritt Frankreichs aus der Europäischen Union an. Wegen antisemitischer Stimmungsmache wurde seine Immunität als Europaabgeordneter mehrfach aufgehoben.
Zuletzt geändert von Wolfram Gagern am Mittwoch 8. Mai 2002, 09:20, insgesamt 1-mal geändert.
Michael Kuss
Beiträge: 85
Registriert: Dienstag 16. April 2002, 21:33
Wohnort: Frankreich

Montag 6. Mai 2002, 00:44

In dem vorgenannten Bericht stimmt alles, - außer der Überschrift:
Die 82 Prozent sind nicht ein JA für Chirac, sondern ein NEIN gegen Le Pen. Heute hat Frankreich nicht nur einen Staatspräsidenten - Chirac - gewählt, sondern Le Pen die Rote Karte gezeigt. Das war mehr ein Referendum gegen Rechtsextreme und Faschos als eine Präsidentenwahl. Es war mehr ein Bekenntnis für Demokratie, für Toleranz, für Europa, für ein weltoffenes Frankreich, als ein Bekenntnis für Chirac. Dieser war allerdings gleich nach dem Wahlausgang klug genug, in seiner ersten Rede staatsmännische Größe zu beweisen, indem er seinen "Wahlsieg" als Ergebnis der gemeinsamen demokratischen Kräfte Frankreichs (ohne die Linken beim Namen zu nennen) bezeichnete. Aber Leute, machen wir uns nichts vor: Le Pen und die FN haben zwar auf Landesebene eine auf die Nase bekommen und sind weit unter dem erhofften Ziel bei 18 Prozent gelandet. Aber aufgepasst: Das sind immerhin einige Millionen Franzosen, die weiterhin auf banale Parolen gehört haben. Und im Süden Frankreichs, besonders in den Departements am Mittelmeer, hat Le Pen seine Stellung als Nummer Eins ausgebaut; z.B. in Nice, Marseille, Grasse, St. Tropez, Frejus und Toulon konnte er noch einmal 3 bis 5 Prozent zulegen, sogar in einigen kleinen Dörfern weit weg von der Küste liegt Le Pen noch vor Chirac. Kein Grund also, sich schlafen zu legen.
Michael Kuss
Stefan Cilimba
Beiträge: 186
Registriert: Samstag 13. April 2002, 22:38
Wohnort: St. Jory de Chalais Perigord Dordogne

Montag 6. Mai 2002, 09:11

Hallo, ich habe hier auch was erlebt. In unserem Dorf St. Jory de Chalais haben bei der ersten Tour ca 11 % für Le Pen gestimmt. Vor einigen Tagen wurde ich vom Bürgermeister (den kann ich eigentlich nicht leiden, da aalglatter Sozi) und seinen Stellvertretern auf einen Kaffee eingeladen, weil Sie mit mir die Wahl diskutieren wollten (es hat sich wohl rumgesprochen, dass wir Grüne sind). Dabei wurde völliges Unverständnis über die Faschowähler geäussert, denn die gleich Kompanie der SS, die am 10.6.1944 in Oradur sur Glane (ca 45 km von hier) das ganze Dorf ermordet hat, also Frauen und Kinder in der Kirche verbrannt, die Männer erschossen, hat nur 4 km von unserem Dorf entfernt auf dem Weg nach Oradur sur Glane 10 Menschen ermordet. Das hatten wir noch nicht gewusst, obwohl wir schon drei Jahre hier leben und auch schon eine Ausstellung über die Geschichte des Dorfes besucht haben. Die Aufregung über die Leute, die angesichts dieses faschistischen Verbrechens die Le Pen Faschisten wählen, war einhellig.
Auf meine scherzhafte Frage, ob ich denn nun wieder emigrieren müsse, wenn Le Pen gewinnt, wurde mir geantwortet, das Le Pen doch die Deutschen mag, wenn auch nur bestimmte. Also sowas wie Galgenhumor.
Ich habe mich entschlossen, mich ein bischen mehr um die Geschichte des zweiten Weltkriegs in dieser Region zu kümmern, falls jemand über entsprechende Information fällt, bitte ich um Nachricht.
Viele Grüsse
Stefan
Michael Kuss
Beiträge: 85
Registriert: Dienstag 16. April 2002, 21:33
Wohnort: Frankreich

Montag 6. Mai 2002, 10:22

Stefan, mit diesen Fragen (auch: Kollaboration zwischen Franzosen und SS) beschäftigen sich mehrere Historische (auch deutsch-französische) Institute und Forschungseinrichtungen in Paris, Luswigsburg und anderen deutschen und französischen Städten. Daüber gibt es tausende Berichte udn erkenntnisse. Ich bin ein bisschen im stress, werde dir (euch) aber in den nächsten Tagen mal die nötigen Web-Adressen suchen. Im Übrigen kannst du noch froh sein, in einer Region mit so wenigen Le-Pen-Wählern zu leben; hier bei uns ist es immerhin jeder Dritte!
Vorab unterdessen mein Kommentar zum Wahlausgang in Südfrankreich, der heute bei Radio France International im deutschen Programm gesendet wird:

>>>

Das landesweit klare Votum und die allgemeine Freude über den Sieg gegen den Rechtspopulismus hinterlässt in Südfrankreich einige Wermutstropfen. Wie bereits im ersten Wahlgang waren auch gestern die Departements am Mittelmeer (Vaucluse, Bouche du Rhone, Var und Alpes Maritim) hauptsächliche Stimmenlieferanten für Le Pen‘s Nationale Front. Sie konnten zwischen Montpellier, Arles, Aix und Marseille, besonders aber zwischen Toulon und Nizza bis zur französischen Grenze zwei bis fünf Prozent zulegen und liegen mit knapp 30 Prozent um zehn Punkte über dem Landesdurchschnitt. Die Wahlbeteiligung im Süden lag unter dem Landesdurchschnitt, von der im Vergleich zum ersten Wahlgang nur leicht erhöhten Beteiligung profitierte fast ausnahmslos die Nationale Front. Bei einem ersten Stimmungsbaromater heute morgen auf der Straße, beim Bäcker und in den Bistros macht sich Unsicherheit und sogar Misstrauen bemerkbar. Schließlich geht der radikale Bruch durch Freundes- und Bekanntenkreise. Immerhin hat in Orten wie St. Tropez oder Cannes jeder Dritte für Le Pen gestimmt, und zwar vom Arbeitslosen bis zum Villen- oder Yachtbesitzer. Das macht umso nachdenklicher angesichts der Tatsache, dass diese Region eigentlich nicht schlecht vom Wirtschaftsfaktor Nummer Eins, vom Tourismus, und damit von Weltoffenheit, von Europa und von Ausländern lebt; - drei Punkte, die nach Le Pens Wahlprogramm eigentlich abgeschafft werden sollen.
Michael Kuss für rfi aus Südfrankreich

***
Antworten