französische Präsidentschaftswahlen in Deutsch

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Michael Kuss
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Registriert: Dienstag 16. April 2002, 21:33
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Sonntag 21. April 2002, 23:54

Folgende Tipps für jene, die sich in deutscher Sprache über die französischen Präsidentschaftswahlen, über Kandidaten, Programme und Wahlanalysen informieren möchten:
TV und Internet:
Unter
http://www.arte-tv.com
gibt der deutsch-französische TV-Sender eine Vielzahl von Informationen und Analysen (in Deutsch und Französisch).
Radio:
Das deutschsprachige Programm von Radio-France-International http://www.rfi.fr
(in Deutschland, besonders in den östlichen Bundesländern gut zu empfangen) bringt Montagmittag um 16 Uhr und abends um 18 Uhr eine Analyse der Wahl. Als RFI-Südfrankreich-Korrespondent nehme ich im Rahmen dieses Programmes eine Analyse über das Wahlverhalten undn die Wählerschichten im französischen Mittelmeerraum vor.
Michael Kuss
Michael Kuss
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Mittwoch 24. April 2002, 00:50

Radio France International (Rfi), Sendung vom Montag, 22. April 2002, Kommentar-Text von Michael Kuss zum Abschneiden Le Pens in seinen entscheidenten Wahlbezirken in Südfrankreich:

Text:

Jean Marie Le Pen hat seine Zweitplatzierung auf nationaler Ebene und seine Stichwahl höchstwahrscheinlich seinem extrem guten Abschneiden und seinem ersten Platz in Südfrankreich und im Mittelmeerraum zu verdanken. Mit fast 24 Prozent (bei Ausnahmen bis zu 33 Prozent in den Departements Vaucluse und Var) liegt der Führer der Nationalen Front im Süden sogar drei Prozent vor Staatspräsident Jacques Chirac. In einigen Orten, z.B. Nizza und St. Tropez, hat Le Pen bis zu dreimal soviel Stimmen wie der sozialistische Überraschungsverlierer Lionel Jospin; damit hat Le Pen sogar die Traumergebnisse überboten, die Francois Mitterand einst 1974 am Mittelmeer eingefahren hatte, zu einer Zeit, als Le Pen mit 0,74 Prozent unter ferner liefen rangierte und das Handtuch werfen wollte.

Bei der Betrachtung der Sozialstruktur der Le Pen-Wähler fällt zunächst ein Paradox auf: Teilweise sind es Einwanderer und deren Nachkommen der zweiten und dritten Generation aus Italien, Portugal und Korsika, die einst als Hilfsarbeiter hier ankamen, sich hoch arbeiteten und heute die große Heerschar der kleinen und mittleren Unternehmen in Handwerk, Dienstleistung, Gastronomie und Immobilien darstellen. Doch neue „Fremde“ die heute kommen, machen Angst, gefährden den Besitzstand. Dagegen hatte Le Pen zwar banale, aber griffige Wahlparolen. Ein Fließenleger kann Fließen legen und ein Kneipier kann Bier ausschenken, aber subtile Wahlprogramme nennen diese Menschen ohne tiefere politische Bildung „Volksverdummung“. Die Wahrergebnisse haben es gezeigt: Kandidaten mit ausführlichen Wahrprogrammen haben Stimmen verloren; Kandidaten (wie Le Pen) mit Schlagwörtern haben Stimmen hinzugewonnen.

Eine weitere Gruppe sind die Piers noirs, die ehemaligen Nord-Afrika-Franzosen, die sich nach der Unabhängigjkeit der Maghreb-Staaten hier in den Küstenorten niedergelassen haben und teilweise einen erheblichen Teil der Ortsbevölkerung darstellen. Diese Leute haben das Frankreich-Debakel in Nord-Afrika nie überwunden; sie machen noch heute konservative Politiker wie General De Gaulle für den Rückzug aus Algerien und damit, wie sie sagen, für den Niedergang Frankreichs verantwortlich, Chirac ist ihnen nicht rechts, nicht nationalistisch genug, da kommt ein Le Pen gerade recht. Le Pen, der zu den Fallschirmjägern im französischen Indochina-Krieg und zu den erbitterten Gegner bei der Aufgabe der französischen Nord-Afrika-Kolonien, also dem Rückzug aus Algerien, gehörte.

Eine dritte Gruppe sind die Senioren. Der Süden ist mittlerweile zum Altersheim Frankreichs geworden. Es sind aber nicht die ehemaligen Arbeiter und heutigen Rentner von Renault oder Peugot, die sich hier im Süden eine Suite, eine Villa oder einen Altersruhesitz leisten, sondern eher jene betuchten Leute, die schon früher mehr dem bürgerlichen und nationalistischem Spektrum zugerechnet werden konnten. Meine Unterhaltungen in diesen „Clubs“ haben eine klare rechtsnationalistische Tendenz ergeben.

Auch unter den Arbeitern hat Le Pen Fuß gefasst. Ich sprach gestern Abend in Toulon mit Le-Pen-Wählern, die früher kommunistisch gewählt hatten. Nicht weil sie aus Überzeugung Kommunisten waren, sondern weil Sie, um ihre eigenen Worte zu benutzen, „Gegen soziale Ungerechtigkeit waren und gleichzeitig eine starke und radikale Führungshand wollten“. Und so sind sie ins Lager von Le Pen gewechselt, wie einst 1933 deutsche Arbeiter von der KP in die SA gewechselt waren.

Bei der Zahl von knapp 30 Prozent Nichtwählern habe ich am Wahlsonntag Nichtwähler in einem Wettbüro (PMU) im Marseiller Hafen gefragt, warum sie nicht zur Wahl gehen. Eine Antwort die vielleicht nicht repräsentativ, aber bezeichnnend ist: „Lieber mache ich ein Kreuz bei einem Pferd auf dem Wettschein, als bei einem Politiker auf dem Wahlschein. Bei der Pferdewette sind die Gewinnchancen höher! Politikern glaube ich überhaupt nichts mehr. Es wurde immer nur versprochen, und keiner hat etwas eingehalten, egal ob Linke oder Konservative!“

Zwar war der konservative Abgeordnete und Bürgermeister von St. Tropez, Michel Couve, sofort mit einer klaren Schuldzuweisung zur Stelle. Er gibt Jospin und seiner rot-grünen Regierungsmehrheit die Schuld am guten Abschneiden Le Pens, weil die linken Parteien die entscheidenten Wahlkampfargumente „Sicherheit" und "Soziale Gerechtigkeit" vernachlässigt hätten. Dabei vergisst das Stadtoberhaupt von St. Tropez, dass der weltbekannte Schicki-Micki-Ort als einer der reichsten Gemeinden Frankreichs gleichzeitig das wahrscheinlich schlechteste und schmutzigste Krankenhaus des Landes hat und Jugendliche auf der Straße hängen, weil das Geld nicht für einen Jugendclub reicht. Wenn dann gleichzeitig in einigen Beach-Clubs der Jet-Set sich morgens um Elf bereits den Champagner (die Flasche zu 300 Euro) über Muskel und Busen spritzt, und St- Tropez-Geschäftsleute eine Privatpolizei gründen, sollte man bei solchen Wahlargumenten vielleicht etwas zurückhaltender sein.

Nach dem Schock vom Sonntagabend haben mir heute morgen einige Le-Pen-Wähler und Nichtwähler gesagt: „Das haben wir micht gewollt! Wir wollten denen da oben zwar mal einen Denkzettel verpassen, aber wir wollten doch nicht allen Ernstes Le Pen an die Macht. Für den zweiten Wahlgang in zwei Wochen werden wir zur Wahl gehen bzw. gegen Le Pen stimmen!“

Mit einem ähnlichen Hinweis meldete sich auch vergangene Nacht der Kandidat der Grünen, der Bürgermeister und Journalist Noel Marmere zu Wort: „Um Le Pen zu vermeiden, müssen beim zweiten Urnengang sogar alle Linken und Alternativen dem konservativen Chirac ihre Stimme geben. Wir dürfen nicht den gleichen Fehler wie Deutschland 1933 machen. Das Risiko ist zu groß, aus parteipolitischer Taktik und mathematischen Spielereien plötzlich einen rechtsradikalen Staatspräsidenten zu haben!“ Dann dürften Le Pen auf nationaler Ebene auch seine Mittelmeer-Hochburgen-Mehrheiten vom ersten Wahlgang bei der entscheidenten Abstimmung am 05. Mai nichts mehr nutzen. Zum erstenmal in der Französischen Geschichte ist die Situation entstanden, dass linke und alternative Parteien und Gruppen ihre Wählerschaft aufrufen, für einen konservativen Kandidaten (nämlich für Chirac) zu stimmen, um Frankreich in der Familie einer weltoffenen, demokratischen und europäischen Familie zu belassen.

Michael Kuss für RFI aus St. Tropez, Südfrankreich.
Wolfram Gagern
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Mittwoch 24. April 2002, 01:46

Kleine (Rechtschreib-)Korrektur zum Artikel von Herrn Kuss und auch nur, weil es so ein schöner Ausdruck ist:
Die ehemaligen Nord-Afrika-Franzosen heißen "Pieds Noirs", also Schwarzfüße. Mit diesem Titel schmücken sich die Franzosen, die in Nordafrika zur Welt gekommen sind.

Nächtliche Grüße,
Wolfram Gagern
Zuletzt geändert von Wolfram Gagern am Mittwoch 24. April 2002, 19:46, insgesamt 1-mal geändert.
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